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von bball62 » 28.06.2018, 13:12
Erster Post hier im neuen Forum, leider gleich zu einem sehr traurigem Anlass. Wir haben uns wohl alle mehr von dieser WM erhofft, nun geht es darum, das Geschehene aufzuarbeiten und die Probleme zu analysieren.
Ich habe diverse Probleme gesehen:
1) Die Einstellung der Mannschaft
Das war wohl mit am offensichtlichsten. Die Einstellung hat überhaupt nicht gestimmt. Gegen Mexiko wurde sich übel vercoacht, das hatte ich als Löw-Sympathisant selbst im schlimmsten Alptraum nicht vorhergesehen. Die ausbleibende Reaktion auf die immer wiederkehrenden Konter der Mexikaner war bereits eine Offenbarung. Gegen Schweden folgte das erwartete schwere Spiel. Auf den Rückstand folgte eine Reaktion der Mannschaft, diese war offenbar noch am Leben. Nach dem Ausgleich gab es eine halbe Stunde lang Powerplay und Einbahnstraßenfußball auf das Tor der Schweden, das Ding wollte aber einfach nicht rein. Mit Kroos' Freistoß, so dachte ich zumindest, sei das Eis gebrochen und Energie in der Mannschaft freigesetzt worden. Umso erschreckender der Auftritt der Mannschaft gestern. Pomadig, uninspiriert, ideenlos - das sind die Schlagwörter, die mir dazu einfallen. Deutschland war dominant, aber es fehlte die zündende Idee. Unter dem Strich war Deutschland aber sowohl gegen Schweden als auch gegen Korea die klar bessere Mannschaft, nur kann man sich davon am Ende eben nichts mehr kaufen.
2) Das Mannschaftsgefüge
Es war offensichtlich, dass da etwas nicht stimmte. Die Stimmung im Land und in der Mannschaft, insbesondere nach der Erdogan-Affäre, war angeknackst. Das zeigte sich auch auf dem Platz, es war keine Einheit zu erkennen. Dass zwei Spieler sich so kurz vor der WM so ein Ding leisten und damit für völliges Chaos sorgen kann man Löw und dem DFB nicht vorwerfen. Was man Ihnen dagegen sehr wohl vorwerfen kann, ist das Management dieses Problems. Dort wurde, so deutlich muss man es leider sagen, versagt.
3) Das Spielermaterial
Für viele galt Deutschland als Titelfavorit. Wenn ich den Kader und insbesondere die Leistungen vieler Spieler in der jüngeren Vergangenheit so durchschaue, dann frage ich mich: wie kommt man darauf? Deutschland ist ohne einen international hochkarätigen Stürmer zur WM gefahren. Es gibt derzeit keinen international hochkarätigen linken Verteidiger. Müller ist nun gefühlt seit Jahren im Formtief, Boateng war lange verletzt, Özil ist seit einigen Jahren blass, Leute wie Götze sind schon gar nicht mehr auf der Agenda aufgrund von schwachen Leistungen. Der einzige, der das Prädikat "weltklasse" im aktuellen Kader verdient, ist wohl Toni Kroos. Und dieser war offenbar auch überspielt und zeigte unter dem Strich eine enttäuschende WM, obwohl der glücklichste Moment auf seine Kappe ging. Bei einem 18er-Kader nur einen Weltklassemann zu haben und dann den Anspruch auf den Titel zu erheben passt für mich nicht ganz zusammen. Neuer fand ich übrigens, entgegen der Meinung von Ray, erwartet gut. Das Tor der Mexikaner soll haltbar gewesen sein? Ein strammer Schuss aus wenigen Metern, halbwegs platziert, da braucht man kein großer Mathematiker zu sein, um auszurechnen, dass die Reaktionszeit da kleinstmöglich war. Ansonsten fiel mir Neuer als Antreiber auf, der als einer der wenigen Willen zeigte und zudem unzählige Konter durch seine Omnipräsenz bereits im Keim erstickt hat. Ein ter Stegen wäre bei dem Druck wohl untergegangen. Ganz klar war dieses Mal, dass ein Leitwolf wie Schweinsteiger gefehlt hat.
Ansonsten war der Spalt zwischen den 2014 WM-Erfolgsgaranten und dem Confed-Team wohl doch zu groß. Erstere waren oder sind über dem Zenit und/oder im Formtief, letztere doch noch zu unerfahren für den großen Wurf. Eine schlechte Kombination.
Hier ist für mich die zentrale Frage: inwieweit kann man Löw hier einen Vorwurf machen? Er hätte Özil und Gündogan rausschmeissen können, Sané hätte er dagegen mitnehmen können. Letzteren fand ich in der Nationalelf immer enttäuschend, in England ist er überragend. Gleiches gilt exakt für Gündogan. Über Özil kann man aus meiner Sicht streiten, ich verstehe jeden, dem die "Lustlosigkeit" auf den Keks geht. Andererseits ist er ein elementarer Bestandteil der wohl erfolgreichsten Jahre, die wir alle zu Lebzeiten erleben durften. Die Erfolge der Vergangenheit mit Özil kann und will ich nicht negieren, jedoch führt dies direkt zum nächsten Punkt...
4) Jogi Löw
Dessen Konzept auf altbewährtes zu setzen ist tierisch in die Hose gegangen. In der Vergangenheit ist er damit gut gefahren, dieses Mal fällt es ihm auf die Füße. Da hat sich Löw verzockt, hinterher ist man allerdings immer schlauer. Im Voraus der WM habe ich niemanden ernsthaft fordern sehen, dass man z. B. Müller streichen sollte. Natürlich war hier mehr das Prinzip Hoffnung, "wird schon", usw. Aber für das Spielermaterial kann Löw aus meiner Sicht trotzdem nichts, er hat die besten Spieler nominiert und diese nach schlechten Leistungen auch relativ konsequent auf die Bank gesetzt. Dass Özil und Khedira gegen Südkorea wieder spielen durften darf und muss man kritisieren, aber es ist nicht so, dass hier jeder Spieler mit schlechten Leistungen durchgeschleppt wurde. Reus, Goretzka und wie sie alle heißen waren gegen Südkorea ebenfalls grottig. Özil war gestern etwas weiter hinten als gewohnt und ich fand sogar, dass er aus dieser 8er-Position einige Angriffe initiiert hat, weiter vorne dann aber größtenteils nicht mehr involviert war.
Ich bin dankbar für Löws Arbeit und seine Ehrlichkeit, die er anschließend gezeigt hat. Er klar gesagt, dass er sich verspekuliert und mit dem Ausscheiden nie ernsthaft gerechnet hat. Wenn er sich den nötigen Umbruch der Nationalelf zutraut, dann sollte er das aus meiner Sicht weiterhin tun. Mir fehlt schlichtweg die Fantasie, wer es denn sonst machen sollte. Der hier vorgeschlagene Hasenhüttl wäre eine Möglichkeit, ich bezweifle aber, dass dieser Interesse an einer Nationalelf hat. Er scheint mir eher der Vereinstrainer zu sein, eine Doppelfunktion würde ich gar nicht befürworten.
5) Hast du Scheisse am Schuh, hast du Scheisse am Schuh
30 Minuten Powerplay gegen Schweden, 90 Minuten Dominanz gegen Südkorea und es geht einfach nichts rein. Immer ist noch ein Bein dazwischen, Mario Gomez feiert 2008-Flashbacks, Hummels vergibt Hochkaräter, Brandt trifft zwei Mal den Pfosten. Auch das soll keine Entschuldigung sein, aber ich fand das schon auffällig. Unter Normalumständen geht da was rein, aber es hat halt überhaupt nichts geklappt.
6) Fazit:
Es spielten viele Faktoren eine Rolle. Eine unausgewogene Mannschaft, diverse Formtiefs, taktisch verzockt, überschätztes Spielermaterial, der Erdogan-Skandal. Das alles darf keine Entschuldigung dafür sein, in der Gruppenphase nicht weiterzukommen. Es ist aber eine Erklärung. Schade, dass es so enden musste. Und schade, dass die Diskussion darüber hier so geführt wird. Begriffe wie "Niveaclown" oder was da nun alles schon dabei war müssen doch echt nicht sein und sprechen dann auch nicht für die Qualität eines Forums. Ich möchte da als Neuling gar nicht klagen, aber da wären mir wenige Beiträge mit etwas mehr Qualität und Analyse lieber als 20 völlig hysterische und emotionale Ausbrüche, die mit einer fundierten und mühevollen Analyse gar nichts zu tun haben. Letztere sind halt auch irgendwo keine Diskussionsgrundlage.